Eines Abends kam ein Jünger zu Lao-tschi und sagte mit erregter Stimme: "Meister, du erzähltest doch einst die Parabel von der Kirsche und dem Spatzen."
Lao-tschi schaute auf und sagte: "So, tat ich das?"
"Ja", sagte der Schüler. "Du erzähltest, daß ein Spatz eine Kirsche sah und Appetit nach ihr verspürte und sie verschlang. Da sie aber zu groß für ihn war, erstickte er an ihr. So geht es jedem, der allzu habgierig ist, sagtest du."
"Sagte ich das?" fragte Lao-tschi. "Dann wird es wohl stimmen."
"Nein, es stimmt ganz und gar nicht!" schrie der Schüler. "Ich habe daraufhin die Spatzen beobachtet. Sie denken nicht daran, Kirschen zu verschlucken. Sie picken langsam an den Früchten herum, bis sie genug haben."
"So?" sagte der Meister glücklich. "Da sagt man immer, die Spatzen hätten nur ein kleines Hirn. Trotzdem haben sie auf meine Worte gehört und sich gebessert. Was lernen wir daraus?"
"Daß deine Parabeln hinten und vorne nicht stimmen," brüllte der Schüler.
"Das auch", entgegnete der Meister. "Aber ich wollte eigentlich noch etwas anderes sagen. Wie war das gleich? Na, es tut nichts zur Sache."
Und er vertiefte sich wieder in das Buch der 88 Sprüche, während sein Schüler in eine Dunkelheit hinauswankte, die für ihn auch durch den milden Vollmond nicht heller wurde.
[Robert Gernhardt]Diese Seite ist von Andreas Walter im März '96 gestaltet.
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