Münchhausen des Kosmos
Janusz Tycner über Stanislaw Lems "Sterntagebücher"

In Zeiten wie den unseren, in denen man immer weniger reist, dafür um so öfter und um so schneller befördert wird, sind die Sterntagebücher des Polen Stanislaw Lem nicht nur ein großer literarischer Wurf. Sie sind überdies ein wohltuender Trost für all jene schwarzsehenden Futurologen, die befürchten, mit dem rasanten Anstieg der Reisegeschwindigkeit sei das Aussterben literarischer Reiseberichte und der Reise-romantik unausweichlich, weil ja unterwegs keine Zeit mehr sein wird für Beschaulichkeit und spannende Erlebnisse.

Das mag zutreffen für unseren Planeten. Wer jedoch weit weg von der Erde Aufregendes erleben will, der muß sich auf alle Fälle, wie Ion Tichy, der Held dieses phantastischen Romans von 1957, zumindest mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. Tichy ist ein einsamer Weltraumfahrer, kosmischer Gulliver und Münchhausen der künftigen Jahrhunderte in einer Person. Er gibt ein bißchen an, aber er besitzt einen gesunden, erdgebundenen Menschenverstand, der ihn nicht im Stich läßt, während er in den Sternenwelten der Milchstraßen und Galaxien herumirrt - und dort Unglaubliches erlebt.

Mit spannenden, hochkomischen und dennoch wissenschaftlich fundierten Romanen wie den Sterntagebüchern hat Stanislaw Lem dazu beigetragen, daß Science-fiction literaturfähig und vom Ruch bloßer Phantasterei befreit worden ist. Stets mischen sich bei ihm philosophische Spekulationen und politische Andeutungen ins Spiel der freien Phantasie und bizarrer Einfälle.

Lem schickt Iion Tichy tief in die Zukunft und läßt ihn in seinen Weltraum-Diarien für uns Bericht erstatten. Der Sternreisende dringt zu den sonderbarsten Staatswesen vor, von denen jedoch die meisten allerirdischste Zustände widerspiegeln.

Als Delegiertem der Erde, der um ihre Aufnahme in die Organisation der Vereinten Planeten nachsuchen soll, widerfährt ihm der erste interplanetare Fauxpas der Menschheit auf dem diplomatischen Parkett der Milchstraße. Vom Durst geplagt, wirft er Geld ein in den vermeintlichen Münzschlitz einer großen leuchtenden Maschine mit verchromtem Ausschank. Leider erweist sich der scheinbare Soda-Automat als der Chefdelegierte des befreundeten Tarrakanien in voller Gala. Eine weitere, vor widersinnigen und widersprüchlichen Situationen, vor beißendem Spott und purem Erfindungsspaß strotzende allegorische Geschichte nimmt, so' ihren Anfang.

Auf seinen Reisen gerät Tichy, nie verlegen, in den Strudel sogenannter Zeitschleifen, in denen der Lauf der Zeit umgekehrt wird und eine Vermehrung der Gegenwart erfolgt, und steht plötzlich sich selbst in unzähliger Gestalt gegenüber. Er besteht den Kampf mit wildgewordenen Kartoffeln, korrigiert die Vergangenheit, guckt sich geduldig die Skurilitäten an, die ihm verkannte, vergessene, im All verschollen geglaubte Erfinder vorführen.

Die Abenteuer, Konflikte und Katastrophen sind zahlreich und kosmisch ausgreifend. Wer wie Tichy in den Wirbel der Glücks- und Unglücksfälle hineingerissen wird, wer, von ungezähmter Neugier angetrieben, nach Ursachen und Folgen fahndet und meistens nur durch willkürliches Geschehen dem Verhängnis entkommt, der hat eben viel Spannendes zu erzählen.

Aber so einfallsreich und unterhaltsam das auch zu lesen ist - es geht Tichy, dem nur scheinbar planlos im Weltall vagabundierenden Sternfahrer, um die Antwort auf die "älteste aller Fragen": wer und wozu den Kosmos, die Zeit, die Evolution, den Verstand und das Sein erzeugt habe. Die Antworten, die Tichy wie Lem darauf geben, sind der eigentliche Clou dieses wunderbar heiteren und erfrischend nachdenklichen Buches. Stünden mir Jahre des Alleinseins auf einem einsamen Stern bevor, es läge gewiß als erstes in meinem Gepäck.

Stanislaw Lem:
Sterntagebücher

Aus dem Polnischen von
Caesar Rymarowicz;
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1978;
524 S., 22,80 DM

Das Ganze aus DIE ZEIT Nr. 15 vom 8. April 1999 S. 57


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