Von : Nikolaus Herhold @ BN (Do, 26.08.93 22:11)


Das Modem

(Martin Gebhardt, 1991)

Es war schon spät am Abend, als der Wind kräftiger wurde und die ersten Regentropfen gegen die Scheibe schlugen. Schon seit Stunden war es so schwül gewesen, daß einem der Regen wie eine Erlösung vorkommen mußte, denn er würde Abkühlung bringen.

"Na bitte - das mußte ja so kommen," dachte das Modem. Wie alle elektronischen Geräte war ihm Wasser ein Greul. Und obwohl der Regen normalerweise außerhalb der Wohnung blieb, fühlte es sich doch immer sehr unbehaglich, wenn während so eines Regengußes nur wenige Meter zwischen ihm und dem lebensfeindlichen Element waren. Schließlich konnte man ja nie wissen... Ein Seufzer entfuhr dem Gerät: "Wenn nur Heinrich zu Hause wäre! Aber der muß sich ja wieder herumtreiben. Und wenn mir hier vor Spannung die Sicherung durchbrennt? Aber wer denkt schon an mich? - Solange ich hier meinen Job tue, bemerkt mich niemand. Doch wehe, es ist einmal irgendetwas nicht in Ordnung."

Und damit hatte das Modem gar nicht so unrecht. Heinrich, sein Besitzer, erwartete eben von ihm, daß es täglich einige hundert Schreibmaschinenseiten an Daten aus der Telefonleitung entgegennahm, um sie dann Zeichen für Zeichen an den PC weiterzuleiten, mit dem es verbunden war. Das war sein Job, und dafür war es gebaut und gekauft worden. Früher, da war Heinrich froh gewesen, wenn überhaupt mal etwas übertragen wurde, aber das war lange her. Damals hatte er es auch oft direkt angesprochen, nicht mit menschlichen Worten, sondern in der natürlichen Sprache des Modems. Wenige Menschen verstehen sich darauf, und das Gerät war stolz, solch einen gebildeten Besitzer zu haben. Inzwischen jedoch wurde ihm alles, was es wissen mußte, von einem automatischen Programm mitgeteilt. Und das war nicht viel: Wähle diese Nummer! Wenn sich jemand meldet, stelle Dich vor; und dann rüber mit den Daten, aber schnell! Zeit ist Geld! Sicher, jede Sekunde belastete Heinrichs Telefonrechnung, aber man wird sich doch auch mal mit den Kollegen unterhalten dürfen. Doch für dererlei elektronische Bedürfnisse haben Menschen kein Verständnis. Früher, als Heinrich die Telefonverbindungen noch per Hand aufgebaut hatte, hatte es immer genug Pausen gegeben, in denen die beiden Modems private Nachrichten hatten austauschen können. Aber diese Zeiten waren wohl endgültig vorbei. Ach, das Leben eines Modems war schon trostlos trostlos heutzutage; vor allem an Abenden wie diesem wurde ihm das wieder überdeutlich.

Plötzlich schreckte etwas es aus seinem Selbstmitleid auf. Zuerst wußte es nicht genau, was es gewesen war. Einige tausend Millisekunden lang versuchte es, dieses seltsame etwas zu identifizieren, das ihm ein kurzes, unangenehmes Kribbeln bis in die letzten Dioden gejagt hatte. Doch dann wurde die ungewisse Ahnung durch ein lautes Krachen bestätigt. Der Alptraum aller seiner Artgenossen: Ein Gewitter!

"Typisch Menschen: Wenn man sie ausnahmsweise mal braucht, sind sie nicht da. Was soll ich jetzt nur machen?" Sicher, Heinrich war abends oft zu Hause und arbeitete bis tief in die Nacht an seinem Computer; und gerade an diesem Abend war er nicht da. Geändert hätte das allerdings nichts. Denn er wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, sein Computersystem wegen eines Gewitters auszuschalten. Aber das wußte das Modem nicht. Und so fühlte es sich wieder einmal von seinem Besitzer im Stich gelaßen.

Da! Schon wieder eine leichte Spannungsschwankung, ein deutliches Zeichen für einen Blitzeinschlag irgendwo im Stadtgebiet. An sich waren diese Schwankungen harmlos, aber sie erinnerten deutlich an die unvorstellbaren Spannungen, die bei so einem Einschlag freiwerden können und die für ein elektronisches Gerät den sicheren Tod bedeuten, wenn sie ungehindert ins Innere gelangen. Und jetzt folgte Blitz auf Blitz, begleitet von dem kaum noch unterbrochenen Grollen der Donner. Ein elektronisches Gerät braucht keinen Donner, um die Entfernung eines Blitzeinschlages abzuschätzen. Er fühlt die Elektrizität in jedem Element seiner Schaltungen. ähnlich, wie Menschen mit der Nase noch die geringsten Anteile von Fremdstoffen in der Luft ausmachen können, registriert ein elektronischer Schaltkreis auch die kleinsten änderungen im Stromnetz. Und diese änderungen waren nicht klein, denn zigtausend Ampere verschwinden nicht einfach, auch wenn sie sich über ein ganzes Stadtgebiet verteilen.

Nur wenige Minuten nach Ausbruch des Gewitters schien alles im Gehäuse des Modems in Unordnung. Daß die Quarzfrequenz ein leichtes Zittern angenommen hatte, war ein deutliches Zeichen von Angst. Auf den Leitern herrschte ein heilloses Durcheinander von sich überlagernden Spannungen. Auch wenn diese für TTL-Bausteine immernoch ein deutliches Low darstellten, spiegelten sie recht gut wider, wie das Modem sich fühlte. Dieses Gefühl kann ein Mensch wahrscheinlich nur nachvollziehen, wenn er einmal mitten in einem Gewitter auf einem Berggipfel gestanden hat. Mit dem Unterschied allerdings, daß ein Modem sich nicht verkriechen kann.

Einige Gewitter hatte es schon miterlebt, aber dieses übertraf alles, was es bisher kannte. Der Computer, mit dem es über dessen Schnittstelle verbunden war, versuchte es ein wenig zu beruhigen. Aber was wußte der schon? Schließlich hatte er eine Sicherung, die ihn recht zuverlässig vor Überspannungen schützte. Das Netzteil des Modems hatte zwar auch eine, aber daher drohte auch nicht die tödliche Gefahr. Denn es war ja natürlicherweise auch mit der Telefonleitung verbunden, und von dieser Seite gab es keinen Schutz, nicht den geringsten. Wenn hier eine große Spannung hineinkommen würde, wäre alles aus. Und das war der Grund, warum das Modem eine so panische Angst vor Gewittern hatte.

Inzwischen war das Gewitter bedrohlich nahegekommen, und es schien genau auf das Haus zuzuhalten, in dem das Modem um sein Leben bangte. Es überlegte fieberhaft, ob es eine Möglichkeit gäbe, dem scheinbar unvermeidlichen Ende zu entkommen. Aber was soll ein Modem schon unternehmen? Es könnte die Feuerwehr anwählen, doch das schien nicht sehr sinnvoll. Denn was sollte es sagen? Die einzige Lautäußerung, zu der es imstande war, war für Menschen völlig unverständlich. Und das war auch gut so. Denn wer hätte ihm schon geglaubt?

Während die Blitze schon um das Haus zuckten und die dadurch verursachten Spannungsschwankungen langsam schmerzhafte Formen annahmen, kam dem kleinen Modem eine rettende Idee: "Die Kabel sind ziemlich straff gespannt. Wenn ich mich nur ein paar Zentimeter weit bewegen könnte, wäre ich sie los." Aber wie sollte das geschehen? Das Modem stand auf einem Zeitschriftenstapel oben auf dem Towergehäuse des Computers. Dadurch hatte es eine leichte Schräglage. Vielleicht könnte es vom Computer irgendeine Hilfe bekommen. Ein Blitzeinschlag im Nachbarhaus nahm dem ängstlichen Modem fast das Bewußtsein. Oder war es sowieso schon am Durchdrehen? "Egal, ich muß es versuchen!"

Über die Schnittstelle rauschten die Daten, die normalerweise ein ankommendes Telefongespräch ankündigten. Das Modem kannte diese Sequenzen genau, und es war sich sicher, daß der Computer den Unterschied nicht bemerken würde. Und es hatte recht. Der Schnittstellenbaustein produzierte eine Anforderung an das System, die der Computer allzugerne bearbeitete, da er um diese Uhrzeit sowieso nichts wichtiges zu tun hatte. Plötzlich kam Leben in das System: Die Festplatte lief an, um die ankommenden Daten aufzunehmen. Es war eine alte Platte, und man konnte den sich bewegenden Schreib-/Lesekopf deutlich hören. Aber nicht nur das. Die Bewegung erzeugte auch eine leichte, kaum wahrnehmbare Erschütterung des ganzen Computergehäuses. Darauf hatte das Modem spekuliert. Es sandte einige fehlerhafte Daten, so daß der Computer meinte, er müße mit dem Empfang nochmals von vorne beginnen. Ein wenig tat es dem Modem leid, seinen Partner so hinters Licht zu führen, aber schließlich ging es um das nackte Überleben.

Immer wieder ließ es die Übertragung von vorne beginnen und variierte dabei leicht die Verzögerung. Die dadurch erzeugte regelmäßige Bewegung in der Festplatte äußerte sich durch ein gleichmäßiges Vibrieren des Gehäuses und damit auch des Zeitschriftenstapels unter dem Modem. Ganz vorsichtig variierte es die Frequenz. Vielleicht ließ sich der Stapel ja ein wenig zum Rutschen bringen. Ein paar Zentimeter nur! Während das Modem arbeitete, machten sich die Spannungsschwankungen noch deutlicher bemerkbar. Ihm war völlig klar, daß das Gewitter es auf es abgesehen hatte.

Und der Plan des Modems hatte tatsächlich Erfolg. Bei einer bestimmten Frequenz geriet der Zeitschriftenstapel ein wenig ins Rutschen. Sofort spannten sich die Leitungen an der Rückseite noch stärker, wollten das Modem festhalten. Aber die Erschütterungen ließen die Stecker langsam nachgeben. "Schneller!" dachte das Modem, "Es kann sich nur noch um Sekunden handeln." Und die Angst war nicht unbegründet. Denn was das Modem nur ahnte, aber nicht wissen konnte, war, daß sich gerade über ihm in einer Wolke eine Spannung bildete, die sich nur Sekunden später in einem gewaltigen Blitz entladen sollte. Und das Modem stand im höchsten Haus dieses Teiles der Stadt. Es geriet jetzt in Panik. Es zog und zerrte an seinen Steckern, um der tödlichen Bedrohung zu entkommen. Die Sekunden schienen endlos, ebenso die wenigen Millimeter, die es noch zu überwinden galt. Dann gaben die Stecker nach, gerade in dem Moment, als sich zehn Millionen Volt zwischen der Gewitterwolke und dem Haus entluden. Die Spannung verteilte sich schnell durch die Strom- und auch durch die Telefonleitungen im Gebäude, aber das Modem war gerettet. Die Stecker hatten es nicht halten können, und so hatte es sich gelöst und war der tödlichen Gefahr gerade eben noch entkommen.

"Gerettet!" dachte das Modem noch, bevor ihm die nun fehlende Stromversorgung die Besinnung nahm. Aber das war ihm egal, denn es kannte das Gefühl, ausgeschaltet zu werden. "Heinrich wird mich schon wieder anschließen, wenn er zurückkommt." waren die letzten Gedanken, die ihm durch die Schaltkreise liefen, bevor ihm zu schwindelig wurde, überhaupt noch zu denken. Danach nahm es nichts mehr wahr. Weder, wie der Computer aufgeregt versuchte, die Ursache der plötzlichen Stille des Modems zu ergründen, noch das dadurch verstärkte Erzittern des Stapels Zeitschriften. Es bekam auch nicht mehr mit, wie es, nachdem es nicht mehr durch seine Kabel zurückgehalten wurde, langsam aber sicher abwärts rutschte, herunterfiel, beim Aufprall zersplitterte und dann von einem Stapel Zeitschriften begraben wurde.


Können wir auch Freunde nicht werden, so wollen wir doch niemals Feinde sein.


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